Warum Nationen scheitern

Kürzlich gelesen: „Warum Nationen scheitern“ von Daron Acemoglu und James A. Robinson. Ein brillantes Werk. Einige Stellen schienen mir von solch zwingender Logik, dass ich in lichten, aber nur kurz aufblitzenden Momenten meinte, die Welt verstehen zu können. So als ob sich gedanklich alles zusammenfügt, wenn Ihr versteht, was ich meine. Banal und doch komplex.

Dank der zahllosen eingestreuten geschichtlichen Details, Anekdoten und Zeitzeugenberichte ist die Lektüre recht unterhaltsam, auch wenn es nicht unbedingt der ganzen 600 Seiten bedurft hätte, um die Kernaussagen zu erfassen.

Die grundlegende Argumentationslinie des Werkes durchzieht in geschichtlichen Ableitungen alle Kapitel und wiederholt sich fast wie ein musikalisches Thema in klanglichen Variationen.

Die Verfasser haben sich zunächst die Frage gestellt, wie sich unterschiedliche und divergierende Wohlstandsniveaus von Staaten erklären lassen. Dabei setzen sie sich mit bereits existierenden Theorien auseinander, widerlegen diese anhand von Beispielen und entwickeln einen eigenen Erklärungsansatz.

Warum haben sich z. B. Nord- und Südamerika völlig gegensätzlich entwickelt? Was ist mit Afrika? Trotz jahrzehntelanger Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe, die Milliarden Dollar, D-Mark und Euro verschlungen hat, gelingt es kaum, Wohlstand und Demokratie zu verbreiten. Ganz im Gegenteil – Jahr für Jahr flammen mehr Konfliktherde auf, Länder versinken in Korruption und Elend oder Anarchie und Chaos.

Rein weltanschaulich begründete Theorien sind meist unbefriedigend, so dass ich persönlich nicht glaube, dass man zum Kern der Problematik vordringt, wenn man sich immer wieder auf ideologische Grabenkämpfe einlässt.
Warum schwimmen einige Staaten und deren herrschende Eliten im Geld, während andere Staaten und deren Bevölkerung immer arm bleiben? Warum lebt die normale Bevölkerung in dem einen Staat in relativem Wohlstand, während die armen Schlucker im Nachbarland nie auf einen grünen Zweig kommen? Warum gelingt es nie, Wohlstand und Demokratie per Entwicklungs- und Finanzhilfe oder mittels robustem Mandat zu exportieren?

Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Acemoglu und Robinson bieten eine einleuchtende Erklärung. Wohltuend vor allem, dass die Verfasser versucht haben, geschichtlichen Entwicklungen in nüchterner Betrachtung auf den Grund zu gehen, ohne sich mit ideologischem oder religiösem Hokuspokus aufzuhalten.

Schnörkellos untersuchen Acemoglu und Robinson, worin die entscheidenden Gründe dafür zu sehen sind, dass manche Länder wirtschaftlich aufblühen, während andere Staaten dauerhaft in Korruption, Elend und Armut versinken.

Anhand zahlreicher geschichtlicher Begebenheiten aus vielen Jahrhunderten wird verdeutlicht, dass die Ursache für Wohlstand oder Armut einer Nation im „extraktiven“ oder „inklusiven“ Charakter der politischen Institutionen eines Landes zu suchen ist, der wiederum den Charakter der wirtschaftlichen Institutionen bestimmt.
Extraktivität und Inklusivität sind hier die Schlüsselbegriffe.

Die Verfasser unterscheiden stets zwischen inklusiven und extraktiven Institutionen.
Inklusive Institutionen sind wohlstandsfördernd, tendenziell demokratisch, schützen Eigentumsrechte und bieten somit wirtschaftliche Anreize und gleiche Chancen für breite gesellschaftliche Gruppen.

Extraktive Institutionen hingegen sind von Korruption, Repression und Nepotismus geprägt, sie extrahieren, also ziehen Vermögen ab bzw. saugen das Volk aus und behindern eine freie wirtschaftliche Entfaltung und pluralistische Entwicklung einer Gesellschaft.

Länder, deren politische und wirtschaftliche Institutionen extraktiven Charakter haben, bleiben arm und werden oft von Despoten oder korrupten Eliten beherrscht, während die Bevölkerung in Staaten, in denen sich inklusive Institutionen entwickelt haben, unter freien demokratischen Bedingungen dauerhaften Wohlstand erlangen kann.

Dann kommen Rückkopplungen und verstärkende Effekte ins Spiel, die symbolhaft als Tugend- und Teufelskreis beschrieben werden.

Dies ist im Grunde die stark verkürzte Kernaussage, die wie schon gesagt mit zahlreichen historischen Details und Berichten belegt wird.

Warum Deutschland scheitert

Beim Lesen drängten sich mir ständig Parallelen auf, auch wenn die Verfasser im Vorwort bezüglich Europa und Eurokrise eine etwas optimistischere Grundhaltung erkennen lassen.

Trotzdem lassen sich m. E. sowohl die europäische Misere als auch die problematische Lage der deutschen Bevölkerung (steigende Abgabenbelastung, sinkende Einkommen, zunehmende Überwachung und Gängelung usw.) mit dieser Theorie ganz gut erklären.

Politische und wirtschaftliche Institutionen in Deutschland und Europa gelten zwar eigentlich als inklusiv, wandeln sich jedoch zunehmend und werden „extraktiver“.

Extraktive Elemente finden sich in wirtschaftlichen und politischen Institutionen.
Anstelle basisdemokratischer Entscheidungen werden ritualisierte Pseudowahlen abgehalten, wobei in Zeiten einer vermeintlichen Alternativlosigkeit Wahlen ohnehin bedeutungslos sein dürften.
Mit der Erststimme wählt man einen nur seinem Gewissen bzw. der Parteiräson verpflichteten Wahlkreiskandidaten und mit der Zweitstimme eine Partei, von der man hofft, dass sie keinen großen Schaden anrichten möge.
In den letzten Wochen wurde gemeldet, dass dutzende amtierende und ehemalige Landtagsabgeordnete in Bayern über Jahre hinweg Verwandte in ihren Stimmkreisbüros als Mitarbeiter angestellt und mit fürstlichen Gehältern versorgt haben. Zu befürchten haben sie nichts, denn es gelten in Deutschland keine klaren Regelungen gegen Abgeordnetenbestechung, zumindest keine, die internationalen Anforderungen genügen würden.

Entscheidungen von größter Tragweite werden in Hinterzimmern im engsten Kreis der Parteiführer und Lobbyisten ausgekungelt und nicht mit dem artikulierten Volkswillen, sondern mit nicht überprüfbaren Ergebnissen von Auftragsumfragen parteinaher Meinungsforschungsinstitute gerechtfertigt.
Immer mehr Entscheidungen werden unter Verletzung des Subsidiaritätsprinzips auf EU-Ebene getroffen. Das Parlament muss im Zuge der Eurorettung seine Budgethoheit aufgeben.
Der Charakter politischer Institutionen wandelt sich dadurch völlig, was auch wirtschaftliche Institutionen nicht unberührt lässt.

Der öffentlich-rechtliche Parteienrundfunk kann seinen Zehnten erheben, der nach Anmeldung des Finanzbedarfs alle Jahre regelmäßig erhöht wird. In der Hand eines kleinen Klüngels, vom Gebührenzahler nicht kontrollierbar, wächst so ein krakenhaftes staatsnahes Rundfunkimperium, das keine private Konkurrenz zu befürchten hat. Über Ausgaben und Mittelverwendung wird nach Gutdünken der Senderbosse entschieden.

Extraktive wirtschaftliche Elemente:
Der Steuerzahler wird z. B. für alle Großbanken in unbeschränkte Haftung genommen, denen Systemrelevanz bescheinigt wurde.
Man denke auch an die sozial ungerechte, wirtschaftlich unsinnige und strukturell sogar schädliche Umverteilung per EEG-Zwangsumlagen, die den Strompreis explodieren lässt. Der Markt ist hier völlig ausgeschaltet.

Die private Versicherungswirtschaft trommelt für verpflichtende Versicherungen wie Zwangsriester, Zwangspflegebahr und Zwangs-BU, während staatliche Sicherungssysteme ausgehungert werden.
Immer mehr Branchen und Zünfte rufen nach Marktabschirmung und Subventionen.
Obwohl die Steuer- und Abgabenbelastung ein unerträgliches Maß erreicht hat, werden in ritualisierten Wahlkämpfen stets weitere Erhöhungen gefordert.

Vor der allgegenwärtigen Korruption im deutschen Gesundheitswesen haben selbst Staatsanwaltschaften mittlerweile kapituliert. Gegen Ärzte, die sich von Pharmaunternehmen bestechen lassen, d. h. Vorteile als Gegenleistung für die Verschreibung bestimmter Medikamente erhalten, kann aufgrund eines Grundsatzurteils des BGH überhaupt nicht mehr ermittelt werden. Kopfprämien für die Überweisung von Patienten an Kliniken oder Pflegedienste sind gang und gäbe. Die Vergabe von Spenderorganen ist manipulierbar usw. usf.
Patientenfleisch ist zur begehrten Handelsware geworden, von denen alle Beteiligten der Verwertungskette gut profitieren, abgesehen von den Patienten und Versicherten.

In Anwendung der Definition von Acemoglu und Robinson kommt man zu dem Schluss, dass es sich dabei zweifellos um extraktive Institutionen bzw. Elemente handelt, die eine wohlstandsfeindliche Wirkung haben, das Volk ausplündern, den Bürgern Chancengleichheit und wirtschaftliche Anreize nehmen, Korruption fördern und letztlich den Staat erodieren und die Nation, d. h. das Volk verarmen lassen.

Bleibt wohl nur zu hoffen, dass sich der so genannte Teufelskreis in diesem Falle durchbrechen lässt.

10 Gedanken zu “Warum Nationen scheitern

  1. Maxx 13. Juli 2016 / 20:06

    Hab letztens dieses alte Posting gesehen und daraufhin noch einmal im besagten Buch geblättert und angelesen, was ich damals in etwa schrieb, einfach mal um zu überprüfen, ob ich meine Einschätzung zu der Grundthese aufrecht erhalte oder vielleicht einige Dinge heute anders sehe.
    Mittlerweile, also drei Jahre später, sehe ich dieses Werk doch etwas kritischer, muss ich zugeben. Okay, drei Jahre sind eine lange Zeit – da hat man viele andere Sachen gelesen, geschrieben, erlebt, Erfahrungen gesammelt… Daher schon interessant, wenn man mal versucht, anhand der eigenen Erfahrungen oder Erkenntnisse auf Basis dieser früheren Texte eine Thematik weiterzudenken. Und grundsätzlich ist das mit so einer virtuellen Loseblattsammlung auf der eigenen Site schon cool, da man auch nach Jahren mal eigene Texte rückblickend noch einmal durchlesen oder revidieren kann. Ich merke jedenfalls, dass ich aus heutiger Sicht natürlich viel kritischer mit eigenen, aber auch mit gelesenen Texten umgehe.

    Hier also mein Nachtrag:
    Die Sichtweise der beiden Autoren (Acemoglu/Robinson – Warum Nationen scheitern: Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut) scheint mir (rückblickend) doch etwas zu technokratisch. Der Grundthese stimme ich natürlich weiterhin zu, dass der maßgebliche Erfolgsfaktor für die Schaffung wohlhabender Nationen darin begründet liegt, ob und wie es der politisch herrschenden Klasse gelingt, inklusive, d. h. den freien Wettbewerb begünstigende und talentfördernde Wirtschaftsinstitutionen mit verlässlichem Rechtssystem, funktionierender Justiz usw. aufzubauen und dauerhaft am Leben zu erhalten. Ist auch alles irgendwie nachvollziehbar und wird auch anhand vieler geschichtlicher Beispiele belegt.
    Wo ich allerdings nicht mehr mitgehe bzw. sogar widersprechen würde, ist der Punkt, dass die Autoren zur Untermauerung ihrer These die Relevanz anderer, z.B. kultureller und religiöser Einflüsse auf die Entwicklung leugnen oder ignorieren. Meines Erachtens liegt hier auch das größte Manko des Werks.
    „Inklusive oder extraktive Wirtschaftsinstitutionen entstehen nicht als vorherbestimmte Resultate spezifischer geographischer Umstände. Sie sind auch nicht das Produkt spezifischer Kulturen oder kluger Ökonomen, auch wenn intellektuelle Innovationen genauso wichtig sind wie technologische. Vielmehr sind Institutionen das kollektive Ergebnis politischer Prozesse.“
    Klar, aber ob diese politischen Prozesse überhaupt entstehen, ist immer auch von kulturspezifischen Einflüssen abhängig. Der Aufstieg oder Fall einer Nation ist sicherlich kein alleiniges Produkt spezifischer Kulturen oder geographischer Umstände, aber Kulturspezifik und Geographie bilden nicht zu vernachlässigende Einflussfaktoren, die derartige politische Prozesse erst ermöglichen und entstehen lassen.
    Beispiel: „In Indien herrschte eine andere industrielle Entwicklungstendenz vor und ließ ein beispiellos starres, erblich zementiertes Kastensystem entstehen, das die Möglichkeiten der Berufswahl und die Marktfunktionen noch stärker einschränkte als es die Feudalordnung im mittelalterlichen Europa tat.“
    Klingt, als hätte man Ursache und Wirkung verdreht. Umgekehrt wird doch eher ein Schuh draus. Es war nicht eine „industrielle Entwicklungstendenz“, die das starre Kastensystem entstehen ließ, sondern es war gerade das traditionelle, tief im Hinduismus verwurzelte Kastensystem, das die industrielle Entwicklung hemmte und auch lange über das Ende der Kolonialherrschaft hinaus (in ländlichen Gebieten bis heute) die Entwicklung inklusiver Institutionen verhindert hat. Ein Land, in dem der Kastenstatus vererbt und „Unberührbare“ diskriminiert bzw. wie Aussätzige behandelt wurden/werden, konnte/kann schwerlich inklusive politische und wirtschaftliche Institutionen entwickeln und somit Wohlstandserwerb auch für unterste Schichten, die Angehörigen niederer Kasten, ermöglichen.
    Selbst Mahatma Ghandi, der einer höheren Kaste angehörte, hat das hinduistische Kastensystem verteidigt, was zeigt, wie stark dieser hinduistische Einfluss auch im unabhängigen Indien war – „ein System, in dem der Beruf und der soziale Rang jedes Menschen von Geburt an feststehen, als Schicksal, dem man nicht entkommen kann.“
    http://www.zeit.de/2014/40/arundhati-roy-indien-gandhi-kastensystem
    Da haben wir doch einen extraktiven, d. h. wohlstandshemmenden kulturellen Einfluss oder?
    Wenn man das indische Kastensystem als extraktives Element erkennt, müsste man auch sehen, dass dessen Ursprünge in der religiösen Prägung der Bevölkerungsmehrheit, also dem Hinduismus liegen. Heutige Rückständigkeit immer nur noch auf die Folgen eines seit vielen Jahrzehnten überwundenen Kolonialismus zurückzuführen, wie es die Autoren tun, ist mir letztlich zu dünn bzw. zu wohlfeil.
    Zum Islam – als Beleg dafür, dass für die Entstehung inklusiver Institutionen religiöse Faktoren irrelevant sein sollen (Saudi-Arabien und ölreiche Scheichtümer werden da wohlweislich außer Acht gelassen), bringen die Autoren nur ein m. E. untaugliches Beispiel: eine kurze Phase wirtschaftlichen Aufschwungs in Ägypten zwischen 1805 und 1848 (unter Muhammad Ali, der damit seine Dynastie begründete).
    Dabei liegt die Unvereinbarkeit des Islam mit dem Grundprinzip der (hier so genannten) Inklusivität ebenfalls auf der Hand. Unter islamischer Herrschaft sind inklusive politische und wirtschaftliche Institutionen nicht vorstellbar, da sie der nur durch Allah befohlenen Herrschaft von Menschen über Menschen widersprechen. Nur die Gesetze Allahs sind letztlich zu befolgen. Man denke auch an die Modernisierung der Türkei, die erst durch konsequente Säkularisierung eines Kemal Atatürk ermöglicht wurde und jetzt mit den zu vermutenden nachteiligen Folgen möglicherweise zurückgedreht wird.
    Inklusive Wirtschaftsinstitutionen bedürfen einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die dem Islam wesensfremd ist. Der Islam verlangt nach dem Gottesstaat. Allah duldet keine liberale Demokratie, keine Gewaltenteilung, keine Opposition, gesteht Frauen nur geringere Rechte als Männern zu, kennt keine Menschenrechte für Ungläubige. Rechtssystem steht unter dem Vorbehalt der Scharia etc. pp. Möchte sehen, wer es da wagt, „politische Prozesse in Gang zu setzen“, die politische Gleichheit (auch der Ungläubigen) und eine breite Beteiligung der Bevölkerung (auch der Frauen) zu befördern? Ist doch völlig illusorisch. Passt irgendwie nicht zur These der Autoren, ja …
    All dies wirkt sich dann eben nicht gerade wohlstandsfördend für mehrheitlich islamische Staaten aus, zumal da anders- und ungläubige Bevölkerungsgruppen eher nichts zu lachen haben …

    Na ja, und weil die Autoren den Einfluss kulturspezifischer und religiöser Faktoren völlig negieren, erscheint mir das Werk aus heutiger Sicht eben auch angesichts der jüngeren Geschichte realitätsfern und zu theoretisierend, trotz des recht guten Exkurses in die Geschichte einzelner Länder. Ach, man könnte sich noch tiefgründiger mit dem Buch auseinandersetzen, wenn’s jetzt jemand außer mir gelesen hätte 😉 – aber ist ja eigentlich sinnlos, da noch so viel zu schreiben über ein Buch, das offenbar kaum jemand gelesen hat oder das von denen, die es lasen, schon vergessen wurde…

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  2. Jochen Gries 26. August 2016 / 14:20

    Vielen Dank für diesen informativen Artikel.
    Wie Sie bin ich der Meinung, dass für den Erfolg einer Nation der Schutz des Privateigentums und ein funktionierender Rechtsstaat von essenzieller Bedeutung sind.
    Ich bin aber nicht mehr davon überzeugt, dass Demokratie ein unbedingt erforderlicher Punkt für den Aufstieg eines Landes ist.
    Gerade der zunehmende Erfolg vieler ostasiatischer Nationen, mit eingeschränkter bis nicht vorhandener Demokratie, zeigt das dies nicht der entscheidende Faktor ist. Auch halten die sehr umfangreichen demokratischen Rechte den gerade stattfindenden Abstieg europäischer Nationen in keiner Weise auf.
    Ich denke, dass die von Ihnen angesprochen kulturellen Prägungen der entscheidende Punkt für den Erfolg oder Misserfolg sind. Einige Länder schafften und schaffen es in Ihrer Geschichte, bei allen möglichen Rückschlägen, immer wieder positive Rahmenbedingungen für den Erfolg ihrer Nation zu schaffen. Einigen Nationen ist dies bis heute noch nie gelungen. Einige Kulturen fördern die für den Aufstieg nötige Inklusivität, andere stehen dieser komplett entgegen. Selbstverständlich erfolgt ein Aufstieg auch bei positiver kultureller Grundlage nicht automatisch. Es macht ihn aber auf jeden Fall überhaupt erst möglich.

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    • Maxx 26. August 2016 / 23:47

      Ja, bin völlig Ihrer Meinung. Auch Autokratien oder Monarchien sind ja zu wohlhabenden Nationen aufgestiegen. Belegen die Autoren auch selbst anhand von Beispielen an einigen Stellen. Man denke z.B. an Südkorea, das quasi unter einer Militärdiktatur zu einer reichen Industrienation aufgestiegen ist. Demokratie ist also nicht die Ursache oder Grundlage des Aufstiegs, kann aber eine Folge sein. Vielleicht hätte ich die Eigenschaft der „Inklusivität“ von Institutionen auch eher anders umschreiben sollen: Teilhabe, Bildung und freie wirtsch. Tätigkeit von allen gesellschaftlichen Schichten und Bevölkerungsgruppen weitgehend ungehindert (und fair) ermöglichend, Sicherheit der Eigentumsrechte garantierend, weitgehende Freiheit von Korruption, Vetternwirtschaft usw.
      Versteht sich, dass zuerst ein stabiler Nationalstaat existieren bzw. geschaffen werden muss, bzw. es muss ja das allgemeine Bewusstsein für eine nationale Zugehörigkeit existieren; Nationen, die nur Mäntel für überkommene zersplitterte Stammes- oder Clangesellschaften sind oder durch ethnisch-religiöse Konflikte zerrissen werden, müssen/werden (wohl zwangsläufig) scheitern (z.B. Afghanistan, Somalia, Lybien). Lässt sich im Grunde auch auf kulturspezifische Ursachen zurückführen. Die Basis für inklusive Institutionen ist dann nicht gegeben.
      Die Frage, ob es sich um Demokratie bzw. eine als demokratisch geltende Staatsform handelt, ist nicht der maßgebliche Faktor für Aufstieg oder Fall von Nationen bzw. die Entwicklung inklusiver Institutionen (fairerweise muss ich zugeben, dass die beiden Autoren (nach meiner Erinnerung) das auch nicht so behaupten). Inklusivität ist nicht mit demokratisch gleichzusetzen (wenn ich das geschrieben haben sollte, war es wohl nicht korrekt bzw. nicht im Sinne der Autoren). 😉 Danke auf jeden Fall für Ihren präzisierenden Kommentar hierzu!
      PS: Ah, stimmt, jetzt sehe ich, was ich schrieb: „Inklusive Wirtschaftsinstitutionen bedürfen einer freiheitlichen „demokratischen“ Grundordnung …“ Ist somit widerlegt, klar.

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  3. Jochen Gries 31. August 2016 / 12:05

    Was ich mich noch Frage ist, wieso bei ähnlichen Ausgangsbedingung so verschiedene Ergebnisse entstehen können. Wenn man z. B. Russland mit China vergleicht. Ich denke bei den Faktoren Korruption, Schutz der Eigentumsrechte, rechtsstaatliche Sicherheit, nationales Bewusstsein und demokratische Teilhabe besteht zwischen diesen Ländern kein allzu großer Unterschied. Trotzdem setzt China zu einem Höhenflug an und Russland dümpelt auf dem gleichen Niveau vor sich hin. Ist dies vollständig mit dem kulturellen Hintergrund zu erklären oder gibt es noch andere Faktoren?
    Ähnliches gilt für Indien. In vielen Ländern stellt die indischstämmige Minderheit die wirtschaftliche und intellektuelle Elite des jeweiligen Landes. Wohingegen das vollständig mit Indern bevölkerte Indien sein mögliches Potential nur ansatzweise auszuschöpfen vermag. Bei entsprechender Weichenstellung könnte Indien innerhalb relativ kurzer Zeit eine bedeutende Weltmacht sein. Wie ist dieser Widerspruch ihrer Meinung nach zu erklären?

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  4. Max 31. August 2016 / 18:11

    Tja, eine berechtigte Frage, die ich mir selbst auch oft gestellt habe. (Man könnte es sich einfach machen und sagen, dass es eben nicht gelungen ist, Inklusivität der Institutionen herzustellen.)
    Russland ist z. B. ein sehr rohstoffreiches Land mit einer schrumpfenden Bevölkerung. Der Segen (und Fluch) des Rohstoffreichtums hat Russland in gewisser Weise geschadet, denn die Konzentration auf einige Rohstoffsektoren hat die Entwicklung einer echten mittelständischen Wirtschaft und verarbeitender Industrien bis heute gehemmt. China ist als bevölkerungsreichstes Land zwar auch reich an Bodenschätzen, hat sich aber klugerweise nie mit der Rolle des Rohstofflieferanten zufrieden gegeben. Dann kommen m. E. stets auch geschichtliche Faktoren zum Tragen, die im Bewusstsein der Bevölkerungen, in Russland wie in China, immer präsent sind. Ich denke, dass bei geschichtlichen Entwicklungen letztlich immer verschiedene Faktoren zusammenwirken. Ein Wechsel der politischen Machthaber kann z. B. Prozesse anstoßen, die bei Vorliegen fruchtbarer Voraussetzungen (bereits vorhandene inklusive Institutionen, Bildungsstand, soziale Schichtung, Einstellungen und Gewohnheiten in der Bevölkerung, Kultur, vorherrschendes Verhältnis zu Religion(en); auch geografische und klimatische Verhältnisse im Land) auf Resonanz treffen und eine positive Dynamik auslösen können. Was passiert in entscheidenden Phasen des gesellschaftlichen u. wirtschaftlichen Umbruchs von Nationen? Gelangt nicht oft zuerst ein „Veränderer“, ein Reformer oder fortschrittlicher bzw. aufgeklärter Politiker an die Macht, dessen Entscheidungen (sofern er Glück und Unterstützung hat) auf fruchtbaren Boden fallen bzw. sich als richtig erweisen?
    Als Deng Xiaoping 1977 in China die Macht übernahm, traf er rechtzeitig wegweisende, pragmatische Entscheidungen (Ein-Kind-Politik, Transformation Chinas zu einer Form der Marktwirtschaft, ohne die Ein-Parteien-Herrschaft in Frage zu stellen) die China einen rapiden Weg zur wirtschaftlichen Modernisierung ebneten. Vielleicht wäre China heute ein verarmter Staat wie Nordkorea, wenn statt Deng Xiaoping die Viererbande bzw. ein Maoist an der Macht geblieben wäre?
    Als sich Gorbatschow Ende der 80er Jahre in der UdSSR an der Reformierung versuchte, war es m. E. längst zu spät; er beging auch schwere Fehler; das Vertrauen der Bevölkerung in ihn, der doch im Westen noch als Hoffnungsträger galt, schwand, die Versorgung brach in Teilen zusammen, und das ganze System zerbröselte. Alles zerfiel zu Staub, anders als in China, dessen pseudosozialistische marktwirtschaftliche Ein-Parteien-Herrschaft weiter funktioniert hat. Hat es vielleicht auch damit zu tun, dass sich Han-Chinesen von Russen bzw. Sowjetbürgern (oder Indern) in ihren Eigenschaften, ihrer Mentalität (Duldung und Leidensfähigkeit), Kultur usw. unterscheiden? Ich mutmaße, dass sich die Einstellung zum Alkohol auch als produktivitätshemmender Faktor in Russland erwiesen hat –…
    In Russland folgten die düsteren 90er Jahre unter Jelzin, weiß jeder, wahrlich keine Erfolgsgeschichte; habe ich seinerzeit (1993/94) selbst erlebt … Es sind sicher jetzt auch die Erfahrungen aus jenen Jahrzehnten, die sich wie ein Schatten auf die nachfolgenden Generationen legen und negative Rückkopplungen erzeugen.
    Mal angenommen, es hätte in der Sowjetunion in den 70ern einen Reformer gegeben, einen, der kompetenter und durchsetzungsstärker als Gorbatschow gewesen wäre, der eine marktwirtschaftliche Liberalisierung (wie in China unter Inkaufnahme des Risikos eines Zerfalls der soz. Einparteienherrschaft) vorangetrieben hätte, wäre die Geschichte vielleicht anders verlaufen? Wäre in Russland bzw. in der (recht multikulturellen) UdSSR nach einer weitergehenden Abrechnung mit dem Stalinismus möglich gewesen, was damals in China nach dem Tod Maos und mit einer nach Kulturrevolution und Hungersnöten geschwächten Bevölkerung umsetzbar war?
    Hmm, bin nicht sicher … Indiens Aufstieg wird m.E. tatsächlich durch kurzsichtiges, rückständiges Denken der einheimischen Eliten behindert. Vielleicht tatsächlich kulturell begründet. Und die Leistungsträger, die auswandern oder per Brain Drain abgeworben werden, sind ja in der Regel die, die im eigenen Land positive Impulse setzen könnten, die der Nation in ihrer Entwicklung fehlen …
    Aber lange Rede, kurzer Sinn: Wahrscheinlich ist wohl, dass es bei Entwicklungen zu mehr „Inklusivität“ auch ein gewisses Maß an Glück braucht, da die Geschichte stets von Unwägbarkeiten und Zufällen abhängt (wie auch die Autoren an einer Stelle zugeben).

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  5. FDominicus 21. November 2016 / 9:22

    Ich empfehle dazu „This time is different“ 7 hundred years of financial folly.
    Oder gerade heute mal wieder auf’s Brot gestrichen bekommen:
    http://www.ortneronline.at/?p=43573

    Und klar auf meinen Seiten behandele ich das im Grunde seit fast 9 Jahren, immer und immer wieder. Aber darüber hatten wir uns ja schon mal ausgetauscht.

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    • Max 21. November 2016 / 15:25

      Tatsächlich sind es sogar acht Jahrhunderte der Finanzkrisen 😉 Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff – „Dieses Mal ist alles anders“ – das Werk meinten Sie, ja? Interessant übrigens, dass „Financial Folly“ im deutschen Titel nüchtern mit Finanzkrisen übersetzt ist. 🙂
      Ja, das ist natürlich eine hervorragende Abhandlung, die sich aber vom thematischen Ansatz bzw. Anspruch her doch von dem obigen Werk unterscheidet. Reinhart und Rogoff untersuchen ja konkret die geschichtliche Abfolge von Finanzkrisen und Staatsbankrotten, während die vorerwähnten Autoren in ihrem Werk mehr abstrahieren, sich eher auf einer allgemeineren institutionellen Ebene bewegen und versuchen, einen anderen Weg bzw. abstrakteren wirtschaftsgeschichtlichen Ansatz zu verfolgen, der zwangsläufig vielleicht simplifiziert erscheint.
      Was mir an Reinharts/Rogoffs Werk aber natürlich sehr gefällt, ist ihre Methodik (die ja der von Robinson/Acemoglu ähnelt), da sie versuchen, anhand geschichtlicher Entwicklungen über Jahrhunderte (hier konkret auf Finanzkrisen bezogen) Muster und Gemeinsamkeiten der Krisen zu identifizieren und zu benennen.
      Gefällt mir auch sehr, aber wie gesagt, das zielt m. E. in eine etwas andere Richtung als das, was ich hier als „Scheitern von Nationen“ begreife. Könnte man eher mal in einem separaten Posting behandeln (oder eben auf Ihr Blog verweisen).
      Worauf ich hinauswill: Krisen und Staatsbankrotte sind einschneidende Ereignisse, aber führen nicht automatisch zum Zerfall einer Nation oder zum Untergang eines noch funktionierenden Staatswesens. Eine Finanzkrise oder der Staatsbankrott eines Landes bedeutet nicht das Ende des Staates oder den Zerfall der Nation. Hätte man Griechenland in den Bankrott geschickt, wäre ja ein Großteil Schulden ausradiert, die Sparguthaben entwertet und eine neue Währungsbezeichnung oder ein paar Nullen weniger stünden auf den Geldscheinen – aber Griechenland würde nach einigen politischen Turbulenzen weiter existieren und sich erholen.
      Dass ein solches Land trotzdem scheitert, scheint mir dann eher nicht primär auf den Umgang mit Staatsfinanzen oder das Finanzsystem, sondern auf den Zustand und die Verfasstheit (d.h. die Extraktivität) nationaler Institutionen zurückzuführen sein, in deren Folge eben Aufblähung des Beamtenapparats, grassierende Korruption, eine Kultur der Vetternwirtschaft (Versorgungsmentalität), gesellschaftliche Lähmung, fehlender Wettbewerb usw., wie oben erläutert. Marode Staatsfinanzen wären dann die Folge einer negativen, also „extraktiven“ Entwicklung. Wie gesagt, so nur kurz der allgemeine Grundgedanke des Werkes.

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  6. FDominicus 6. September 2017 / 14:48

    Da ich hier auf Zufall mal wieder „landete“. Vielleicht mögen Sie mal in „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ von Jared Diamond hineinschauen?

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    • Max 6. September 2017 / 15:23

      Werde ich tun. Kenne ich noch nicht. Danke für den Hinweis. 🙂
      Ja, der Klappentext klingt schon mal sehr interessant …

      PS: Hatte auch vor einigen Monaten kurioserweise ein anderes Buch am Wickel, in dem auch auf Robinson/Acemoglus Werk verwiesen bzw. Bezug genommen wurde.
      Wenn ich mich recht erinnere, stammte das von „Niall Ferguson“, hab aber den Titel nicht parat. Der bezog sich aber vorwiegend auf fiskalische und finanzielle Aspekte usw. Ging da wohl auch eher um Fragen der „Reformierung“ des Bankensystems. Da fehlte so der Blick auf das Große u. Ganze, (fand ich jedenfalls, soweit ich mich erinnere). War auch schon vor einigen Jahren, frisch unter dem Eindruck der Subprime-Krise geschrieben.

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    • Max 6. Oktober 2017 / 14:07

      Danke, @FDominicus. Habe mir gerade mal das erwähnte Werk von Jared Diamond vorgenommen. Scheint auch eine interessante u. umfangreiche Lektüre zu sein, wobei der Autor – nach dem zu urteilen, was ich bisher beim ersten Sichten bzw. Durchblättern gesehen habe – sich bei der Ursachenforschung wohl in erster Linie mit ökologischen Faktoren beschäftigt (Umweltzerstörung u. a. als Folge bestimmter ges. Entwicklungen und Wirtschaftsformen).
      Muss ich aber erstmal in Ruhe durchlesen … Vom Ansatz her nachvollziehbar u. plausibel, wobei aber nach meinem Empfinden (vom Menschen versursachte) ökologische Katastrophen, d. h. die Zerstörung des eigenen Lebensraums einer Gesellschaft eher schon eine Folge, aber nicht die primäre bzw. grundlegende Ursache des Niedergangs von Gesellschaften ist. (Aber ich stecke noch in den ersten Kapiteln, wie gesagt, noch nicht durchgelesen.)

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